Gänsejagd - ein notwendiges Übel?

Von Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann
Da kommen sie. In hellen Scharen fliegen sie ab Anfang Oktober mit den ersten Kaltluftwellen aus dem Osten bei uns ein. Sie landen auf Grünland oder den frisch sprießenden Wintergetreide- und Rapsschlägen. Wildgänse sind es, die in der arktischen Tundra oder der Waldtundra Skandinaviens oder Sibiriens gebrütet haben und nun hier ankommen, um es sich im milden Winter des Golfstromklimas an der Küste oder in den großen Flusslandschaften an Rhein, Ems, Elbe und Weser gut gehen zu lassen - zu Lasten der Landwirtschaft?
Jedenfalls fressen sie den ganzen lieben langen Tag. Pflanzliche Kost ist nicht sehr ausgiebig. Sie verdauen nicht länger als eine Stunde an einer Magenfüllung und müssen umso mehr davon aufnehmen, um ihren Energiehaushalt zu finanzieren. Im Lauf des Winters entstehen auf den mehrfach besuchten Äckern und Wiesen Kahlstellen. Sinkt die Außentemperatur unter 5°C, dann wächst auch nichts mehr nach.
Kein Wunder, dass die Landwirte angesichts der lebenden Mähmaschinen auf ihren hoch produktiven EU-Flächen zuerst nervös, dann wütend werden. „Gänse leben- Bauern sterben“ - so und ähnlich lauten die Protestschilder, die man im Rheiderland, am Niederrhein oder an der Mittelelbe an den Straßen stehen sieht. Und ganz schnell kommt die Forderung auf, mit der Flinte dazwischen zu halten, um einige der Fresser totzuschießen oder doch wenigstens den Trupp auf Nimmerwiedersehen davon zu scheuchen.
Leider ist die Rechnung aus dem Bauch ohne den Wirt gemacht. Man kann durch stetigen Jagddruck einen Teil der Gänse tatsächlich verjagen. Sie landen dann auf der Nachbarfläche, um dort weiter zu weiden. Kann sein, dass sie auch ein paar Kilometer weiter fliegen, unter Umständen sogar über die deutsch-holländische Grenze ins Nachbarland. Na und? Eine Rechnung nach dem Sankt-Florians-Prinzip („Verschon mein Haus, zünd andre an“) kann doch wohl im heutigen kleinen Europa nicht mehr aufgehen. Schlimmer noch: Die verjagten Gänse sind beunruhigt und fressen nachhaltiger, als wenn sie in Ruhe gelassen werden. Sie konzentrieren sich unter Umständen auf weniger gestörten Flächen, wo der Weideschaden größer wird. Ein Verfahren, das dem eigentlich gemeinten Sinn zuwiderläuft, also kontraproduktiv ist. Überdies wollen die Jäger gar nicht so gern am Acker stehen und als Vollzugsgehilfen der Landwirtschaft jagen. Sie wollen es schön haben, möglichst im Naturschutzgebiet in ungestörter Stille ihrem Hobby nachgehen und die Gänse bequem abschießen, wenn sie auf dem Schlafgewässer einfliegen.
Leider ist das nicht alles. Es kommt noch eine Reihe unerfreulicher Nebenwirkung der Jagd auf Gänse hinzu. Da die intelligenten Großvögel sehr schnell vorsichtig werden, wenn es ein paarmal geknallt hat, halten sie große Entfernungen zu allem ein, was verdächtig ist. Die Jäger schießen zu früh auf zu weite Distanzen. Das bringt wenig Gänse auf den Boden, aber viele werden verletzt. Sie gehen entweder rasch an ihren Verletzungen zu Grunde oder tragen auf Lebenszeit das Blei in sich, das allmählich den Körper vergiftet. Gar nicht zu reden von dem Blei, das sonst noch in der Landschaft verteilt wird und vielleicht eine unheilvolle Rolle in den Nahrungsnetzen spielt. Leider haben es trotz aller Appelle der Verantwortlichen die deutschen Jäger bisher noch nicht geschafft, sich von dem giftigen Bleischrot zu distanzieren, das in anderen moderneren Ländern längst verboten ist.
Die Jagd zerstört Paarbindungen der Gänse, sie nimmt den Eltern die Kinder weg oder den Kindern die Eltern. Ist es nicht gegen alle Jagdethik, führende Alttiere zu erlegen? Niemand soll behaupten, er könnte im abendlichen Gegenlicht in der Eile Alt- und Jungvögel unterscheiden, was selbst den jahrelang geübten Vogelkundlern schwer fällt. Schlimmer noch: Selbst die Arten sind kaum auseinander zu halten. Wer vermag schon im großen Blässganstrupp die wenigen seltenen und höchst gefährdeten Zwerggänse zu erkennen?
Fazit: Gänsejagd hilft nicht den Landwirten. Die verdienen andere Unterstützung. Gänsejagd schlägt Tierschutz und Naturschutz ins Gesicht. Sie bringt nicht einmal eine anständige Trophäe. Sie ist reines mittelalterliches Hobby. Und die Sache mit dem Weihnachtsbraten? Dazu weiß der Urvater der deutschen Vogelkunde, Johann Friedrich Naumann (1780-1856), selbst ein großer Vogeljäger vor dem Herrn, folgendes zu bemerken: „...Dagegen ist das Fleisch der Alten, bei dem jener Beigeschmack auch viel stärker, sehr zähe und trocken, wenn sie sehr alt, beides in so hohem Grade und so saftlos, dass es nur durch besondere Vorkehrungen, durch Beizen in Essig, eine Zeit lang durch und durch gefrieren lassen und andere Mittel kaum genießbar zu machen ist oder in Pasteten taugt.“